Rezension: Heiße Luft zur Abkühlung?

Alles Gender Wie das Geschlecht in den Kopf kommt Sigi Lieb Querverlag

Rezension: Heiße Luft zur Abkühlung?

Der Titel führt in die Irre: Alle(s) Gender: Wie kommt das Geschlecht in den Kopf? handelt nicht etwa davon, wie Geschlechts- bzw. Gender-Klischees entstehen. Es geht vor allem um die heiß geführte Debatte zum geplanten (und kürzlich im Kabinett verabschiedeten) Selbstbestimmungsgesetz (SBGG). „Ziel des Buches ist es, feministische, homosexuelle, transgeschlechtliche und intergeschlechtliche Interessen zu verbinden, ohne die Unterschiede und Widersprüche zu leugnen“, schrieb Sigi Lieb kürzlich in einem LinkedIn-Beitrag. Hört sich gut an – jedoch sind beim Lesen zu viele Irritationen entstanden als dass ich sagen könnte: Ziel erreicht.

 

Sigi Lieb kenne ich nicht persönlich, doch schätze ich sie als Netzwerk-Kollegin und für ihre ausgeglichenen Postings zum Thema Gendern auf LinkedIn. Als ich von ihrem Buch gehört habe, war ich gespannt zu erfahren, was die frühere Journalistin und heutige „Beraterin und Trainerin für inklusive, geschlechtersensible und diskriminierungsarme Kommunikation“ unter dem Titel Alle(s) Gender: Wie kommt das Geschlecht in den Kopf? zu sagen bzw. schreiben hat.

Die erste Enttäuschung war groß: Nachdem ich Klappentext („Egal, wie du heute über männlich, weiblich, divers, trans und inter denkst: Nach der Lektüre des Buches wirst du einiges überdenken. Versprochen!“) und das Vorwort als Leseprobe gelesen hatte, verging mir fürs erste die Lust, mich damit zu beschäftigen. Denn es ging gar nicht wirklich um Gender(n), sondern in erster Linie um die (v. a. medizinische) Behandlung von Trans*-Menschen und die aktuelle Debatte zum geplanten Selbstbestimmungsgesetz (SBGG). Und das in einer, meiner Meinung nach, sehr undifferenzierten Art und Weise.

Doch da Vorwort und Klappentext ja selten für ein ganzes Buch stehen (und, muss ich zugeben, mein Idealismus getriggert war – mein Persönlichkeitstyp „Verträumte Idealistin“ lässt grüßen), gab ich dem Buch dann doch eine Chance. Außerdem schreibt die Autorin im letzten Satz des Vorworts: „Im Idealfall trägt das Buch dazu bei, die teils überhitzte Debatte zum Thema Transgender in sachlichere Bahnen zu lenken, so dass wir als Gesellschaft Lösungen finden, die mit denen alle gut leben können.“ Das fände ich sehr wünschenswert!

Na denn: schauen bzw. lesen wir mal.

In elf Kapiteln liefert Sigi Lieb Definitionen und historische Hintergründe rund um das Thema Geschlecht. Eingebaut sind zudem Erfahrungsberichte von Menschen, die sich als inter*, nicht-binär, trans*, detrans* oder gar nicht definieren. Damit versucht sie, die „Konfusion zwischen Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität“ zu klären. Zudem ist es ihr ein Anliegen, den Genderbias (=geschlechtsstereotype Vorstellungen, Verhaltenserwartungen und Verhaltensmuster) kritisch zu reflektieren.

Über einige der aufgeworfenen Fragen lohnt es sich, nachzudenken.

Etwa:

  • Gibt es ein rein biologisches/körperliches Geschlecht?
  • Ist das dasselbe wie die Geschlechtsidentität?
  • Woran machen wir das Geschlecht einer Person fest? An Kleidung, Habitus, Aussehen, Geschlechtsteilen? Und was ist dabei die Norm und was die Abweichung von dieser Norm?
  • Warum überhaupt erhebt ein Staat Daten zu Geschlechtern?
  • In welchen Bereichen sind Geschlecht und Geschlechtsidentität wichtig?
  • Warum leben wir in einem Patriarchat?
  • Was sind die negativen Folgen des Patriarchats und den oft damit einhergehenden Rollenerwartungen – für alle Geschlechter?
  • Worum genau geht es in der aktuellen heiß und ziemlich schwarz-weiß geführten Debatte, die sich am geplanten Selbstbestimmungsgesetz entzündet hat?

Ich meine: Für komplexe Themen finden sich selten einfache Antworten und Lösungen, mit denen dann auch noch alle gut leben können. Das zeigt sich eben aktuell auch in der erbittert geführten Debatte um das Selbstbestimmungsgesetz, die in Social Media, auf der Straße, in Büchern und zunehmend auch in der (ach so neutralen) Presse ausgetragen wird.

In einem LinkedIn-Beitrag schreibt Sigi Lieb im August 2023 unter anderem:

Der Deutsche Frauenrat u. a. pro Selbstbestimmung auf Facebook Illustration: Louie @tenderrebellions

„Ziel des Buches ist es, feministische, homosexuelle, transgeschlechtliche und intergeschlechtliche Interessen zu verbinden, ohne die Unterschiede und Widersprüche zu leugnen.“

Etwas Verbindendes konnte ich allerdings nur an wenigen Stellen finden.

Stattdessen ergaben sich bei mir fast über das ganze Buch hinweg jede Menge Fragen und Irritationen. Unter anderem:

  • Wie ist es möglich, über einen Gesetzentwurf und eine Debatte zu schreiben (und das sachlich), ohne beides erstmal grundsätzlich darzustellen – inklusive der strittigen Punkte und wie die (mindestens) zwei Seiten diese sehen?

 

  • Btw: Schon heute stehen Selbstbestimmung (Stichwort: Grundgesetz Artikel 3,3 und Antidiskriminierungsgesetz) und Ausschluss/Schutz in einem ständigen Spannungsverhältnis. Das hat nichts mit dem SBGG zu tun.

 

  • Warum betont die Autorin den medizinischen Aspekt von Transition so sehr – und lässt andere Aspekte (z. B. die psychologischen Gesundheit von Trans*) völlig unberücksichtigt?

 

  • Warum nutzt sie den Begriff „Trans-Aktivist*innen“ ausschließlich in einer negativen Bedeutung und für eine bestimmte (Teil-)Gruppe? Was ist falsch am Aktivismus?

 

Trans*- und Interschwimmen in Köln Informationen
Trans*- und Inter*-Schwimmen in Köln – so einfach kann’s sein!
  • Denn: Selbstbestimmung muss oft hart erkämpft werden (auch mit harten Worten) – und ist btw trotzdem noch nicht überall erreicht (Stichwort: zwingende Beratung vor Schwangerschaftsabbruch). Doch eine Zwangsberatung oder gar Begutachtung von Trans ist okay?

 

  • Eine gesellschaftliche Entwicklung braucht immer Zeit und Debatten – und ist niemals abgeschlossen ist. Neues löst bei vielen Menschen erstmal Irritation bis Angst aus. Das ist einer von mehreren psychologischen Aspekten, die ich im Buch vermisse.

 

  • Ich weiß nicht, welchen Feminismus Sigi Lieb vertritt – meinen jedenfalls nicht, also das, was ich unter Feminismus verstehe. Natürlich ist mir bewusst, dass es auch und gerade innerhalb des Feminismus unterschiedliche Debatten und Ansichten gibt – und das ganz besonders beim Thema Trans*.

 

  • Sie macht sich zum Sprachrohr einer Gruppe (der Intersexuellen) und gleichzeitig zur Kritikerin von zwei anderen Teil-Gruppen (Trans*, die körperangleichende Maßnahmen vornehmen, und den sog. Trans*-Aktivistinnen).

 

  • Warum die große Fürsprache für Inter und nicht (auch) für Nichtbinäre?
  • Wie nah ist die Argumentation des Buches an der Lebensrealität von Trans* und anderen darin Genannten (etwa Bisexuellen)? Meinem Eindruck nach: nicht sehr – trotz der biografischen Texte.

 

  • Debatten finden durchaus auch innerhalb von Gruppen UND darüber hinaus statt, erste Lösungen sind erarbeitet worden und weiterhin das weiterhin (Beispiel Trans- und Interschwimmen in ihrer Wahl-Heimatstadt Köln seit Mitte 2020, zahlreiche Publikationen allein vom Queeren Netzwerk NRW …).

 

  • Die Autorin wirft verschiedene Ebenen durcheinander, die in einer sinnvollen Debatte getrennt werden sollten (Beispiel Twitter-Hashtag).

 

  • Mir fehlen konstruktive Lösungsvorschläge (ein indirektes Verbot von medizinischen geschlechtsangleichenden Maßnahmen ist meiner Meinung nach kein solcher).

 

  • Wieso verwendet die Autorin den Begriff „Doing Gender“ auf diese Art und Weise? (Ich habe ihn jedenfalls einst an der Uni anders gelernt.)

 

  • Einer Gruppe Menschen, die intelligent und reif genug ist (auch vor dem Gesetz), sich Informationen einzuholen (und dies auch tut) vorzuschreiben, was sie (nicht) zu tun hat, ist Bevormundung. Und: Bevormundung ist kein Schutz, ebenso wenig wie eine unsachliche Debatte, in denen Ängste geschürt werden. Schutz erreichen wir durch Information/Aufklärung und Empowerment – oder anders gesagt: Selbstbestimmung. Das sollte eine selbst ernannte Feministin meiner Meinung nach wissen.

 

  • Lieb kritisiert die unsachliche Debatte und ist selbst an mancher Stelle unsachlich („Trans-Aktivist*innen“, Auswahl und Darstellung der Infos für ihre Argumentation, …)

 

  • Die eine oder andere Argumentationslinie ist schon veraltet, weil im Referentenentwurf (und wahrscheinlich auch im nigelnagelneuen Gesetz) berücksichtigt (zu Gunsten von Liebs Argumentation, zuungunsten der Argumentation der „ bösen Trans-Aktivist*innen“ und anderer Gruppen)

 

  • Was will Lieb mit ihrem Buch sagen – und vor allem: wem? Wer genau ist die Zielgruppe? Wen möchte Lieb überzeugen? Und warum?

 

  • All das zusammengenommen: Wie genau wird dieses Buch dem Anspruch gerecht, zur Versachlichung einer heiß geführten Debatte beizutragen? Wie neutral ist die Herangehensweise?

 

  • Und: Wieso bringt ausgerechnet der Querverlag solch ein Buch (mit solch einem unpassenden Titel) heraus?

 

Auch wenn sie viele Quellen auswertet und zitiert, bleibt Sigi Lieb mir an einigen zu stellen zu vage. Nur zwei Beispiele:

Sigi Lieb schreibt bei der Erläuterung des Ts in LGBTQIA+: „Sie fühlen sich nicht ihrem Körpergeschlecht beziehungsweise ihrem geburtsgeschlechtlichem Personenstand zugehörig. Häufig, aber nicht immer, ist das verbunden mit einer medizinischen Angleichung an das Identitätsgeschlecht.“ Da frage ich mich: Wie häufig ist „häufig“? In meiner subjektiven Wahrnehmung (die sich aus den mir persönlich bekannten Trans*-Menschen speist) ist das eher ein Klischee, das leider von vielen Medien und Internetseiten (interessanterweise auf Wikipedia gerade geändert) weitergetragen wird. Objektiv betrachtet kann es dazu gar keine zahlenmäßige Einordnung geben, weil es dazu erstmal (genaue!) Zahlen geben müsste, wie viele Menschen sich als Trans* definieren. Diese Zahl müsste dann ins Verhältnis mit den durchgeführten medizinischen Behandlungen gesetzt werden. Fälschlicherweise wird häufig eben nur die Zahl der medizinischen Behandlungen herangezogen, wie die dgti* schreibt.

Genauso ungenau ist Sigi Liebs Meinung, dass eine Transition immer irreversibel sei. Bei Operationen stimmt das natürlich. Doch erstens entscheiden sich nicht alle Trans* für eine (oder, im Falle von Transmännern, zwei) geschlechtsangleichende OP(s) (zum Beispiel wegen der gesundheitlichen Risiken!, wie ich gehört habe) und zweitens weiß die Medizin inzwischen, dass eine Hormonbehandlung zumindest teilweise reversibel sein kann – je nachdem, wie weit diese fortgeschritten ist.

Mein Fazit zum Buch Alle(s) Gender:

Denke ich nach dem Lesen anders über Gender, wie die Autorin im Klappentext „verspricht“? Nein. Dabei wäre sicherlich mehr drin gewesen, um die Debatte wirklich zu versachlichen – was ja Sigi Liebs eigener Anspruch war. Doch so ist das Buch für mich leider (mit Ausnahme eines sehr gelungen Kapitels) vor allem heiße Luft – und die trägt bekanntermaßen nicht zur Abkühlung bei.

 

Wer sich eingehender mit den Themen Selbstbestimmungsgesetz (SBGG) und der Diskussion beschäftigen möchte (im Zusammenhang mit dem Buch und darüber hinaus), findet in meiner kommentierten Linkliste weitere Quellen für eine fundierte Debatte zum Selbstbestimmungsgesetz.

Weitere Rezension:

Von meiner VFLL- und texttreff-Kollegin Henrike Doerr auf ihrer Seite Textwelten

 

Das Buch:*

Buch Alle(s) Gender Wie kommt das Geschlecht in den Kopf? von Sigi Lieb, Querverlag, Selbstbestimmung

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Weiterer Blog-Artikel zu einem Gender-Thema:

Warum Frauen im Fußball nie gut genug sind

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