Nach #KoelnHBF: Kein Bock auf Angstmache
28. Februar 2016
Die Silvesterübergriffe sind furchtbar und müssen unbedingt aufgeklärt werden. Die Art der panikmachenden Berichterstattung jedoch ist gefährlich. Sie erzeugt Angst und Misstrauen. Das nutzt niemandem – ganz im Gegenteil schadet sie vor allem Frauen und der ganzen Gesellschaft. Gleichzeitig spiegeln die (traditionellen) Medien unsere Gesellschaft wider: Eine Gesellschaft, die geradezu angstsüchtig ist und aus der viel größeren Wahrheit nur minikleine Ausschnitte wahrnimmt. Nun ist es an uns: Wählen wir die Versklavung oder die Freiheit?
Die Übergriffe, die in Köln an Silvester und in anderen Städten geschehen sind, sind derzeit in allen Medien. Und das ist auch gut so, denn Gewalt gegen Frauen ist lange genug verschwiegen worden oder wurde – und wird manchmal noch bis heute – als Kavaliersdelikt abgetan. Oder noch schlimmer: Den Frauen wird die Schuld gegeben, schließlich trugen sie einen kurzen Rock oder haben sich ansprechen lassen …
Zum Glück sind wir inzwischen so weit, dass sich die Medien über solche Taten empören und Täter wie Opfer klar benennen. Die Vorfälle müssen untersucht und die Täter bestraft werden. Außerdem müssen die Opfer die Hilfe erhalten, die sie brauchen. Ganz klar.
Jedoch meine ich auch: Diese panikartige Form der Berichterstattung, wie sie gerade stattfindet, nutzt niemandem, am wenigsten den Opfern selbst – und anderen Frauen. Denn sie ist geeignet, vor allem eine Emotion auszulösen und zu verbreiten: Angst. Und Angst ist ein schlechter Ratgeber, wie der Volksmund ganz richtig weiß.
Leider kann sich der Volksmund mit dieser Weisheit aber nicht wirklich durchsetzen. Denn wir leben in einer Gesellschaft, die geradezu angstgetrieben ist. Der Psychologe und Suchtberater Joseph Bailey spricht in seinem Buch „Furchtlos leben! Unbeschwert und mutig in einer Welt der tausend Ängste“ sogar von einer kollektiven Angstsucht: Wir sind es so sehr gewohnt, uns ständig Sorgen und Stress zu machen, dass es uns schon gar nicht mehr auffällt. Und Stress und Sorgen sind Angst in einer gesellschaftlich akzeptierten Form und der erste Schritt zu größeren Ängsten: Wir machen uns tagtäglich Gedanken zum Beispiel um den Arbeitsplatz, ob wir pünktlich zur Arbeit kommen, ob wir die Prüfung bestehen oder das Vorstellungsgespräch meistern, wie wir finanziell über die Runden kommen – jetzt oder in der Rente. Hinzu kommen zum Beispiel die Angst vorm Alleinsein und Altwerden, vor Krankheiten, Unfällen – und: die Angst, Opfer einer kriminellen Tat zu werden.
Ich habe jedenfalls keine Lust, auf die medial verbreitete Angst einzusteigen. Aus vielen, wie ich finde, guten Gründen:
- Angst verengt den Gesichtskreis, wodurch wir mögliche Gefahren schlechter wahrnehmen.
Diese Erfahrung habe ich schon selbst gemacht: Früher hatte ich noch mehr Angst vorm Autofahren, insbesondere in der Stadt. Nachdem ich diese Angst bearbeitet und ein gutes Stück weit gelöst hatte, nahm ich am Steuer plötzlich eine viel weitere Sicht wahr! Zuvor hatte ich immer dem Fiesta und seiner Bauform die alleinige Schuld dafür gegeben, dass mein Sichtfeld so eingeschränkt war … Und da ich nun mehr sehen konnte, nahm die Angst, die noch da war, weiter ab. Gleichzeitig fühlte ich mich immer sicherer beim Autofahren.
- Angst schneidet uns von unserer Intuition, unserem Bauchgefühl ab. Dieses brauchen wir jedoch, um mögliche – und tatsächliche, nicht nur eingebildete – Gefahren erkennen und richtig einschätzen zu können.
- Angst und Panik machen uns starr, und wir können nicht mehr richtig oder gar nicht mehr handeln. Und schlimmstenfalls geschieht uns dann erstrecht etwas, weil wir handlungsunfähig sind.
- Angst macht immer unfrei – individuell wie kollektiv.
Die Politik tut gerne so, als könne sie Sicherheit schaffen – durch Polizei, in vielen anderen Ländern zusätzlich durch Militär. Ganze Kriege werden mit der „Sicherheit“ begründet, die sie dem eigenen Land brächten!!! Das ist einerseits verständlich. Denn mit der Angst eng verbunden ist – natürlich – der Wunsch nach Sicherheit. Was ist jedoch, wenn die Angst von der Politik gezielt geschürt wird, damit der starke Präsident kommen und durch einen Militärschlag alles regeln kann? Und dann auch noch wiedergewählt wird??
Auch die (traditionellen) Medien nutzen die Angst zu ihrem Vorteil. Denn damit binden sie gleichfalls LeserInnen wie PolitikerInnen an sich. Letztere, weil sie bestrebt sind, in der Öffentlichkeit gut dazustehen. Und die negativen Schlagzeilen befriedigen unsere Angstsucht, an der wir alle mehr oder weniger leiden. Die Medien erhalten durch ihre negative Berichterstattung Leser und Inhalte und damit ihre Daseinsberechtigung. Medien, die vor allem Positives verbreiten, sind leider noch selten.
Die ständigen negativen Schlagzeilen – nicht nur, aber ganz besonders im aktuellen Kölner Fall –befeuern diese Angstsucht. Ganz besonders, wenn sie en détail kriminelle Taten wiedergeben – wie auch jetzt wieder. Gleichzeitig wird der Ruf nach Sicherheit laut: Mehr Polizeipräsenz am Hauptbahnhof etc.
Das Dumme ist nur: Das ganze Leben ist ein Risiko. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht und wird es nie geben – egal, wie viele PolizistInnen den Kölner Hauptbahnhof verstopfen. Was machen wir nun damit? Am besten gar nicht mehr aufstehen? Und was, wenn wir aus dem Bett fallen und uns dabei das Genick brechen …?
Eng damit verbunden ist ein weiteres Problem: Medien können immer nur einen klitzekleinen Teil der Wahrheit* abbilden. Aus den hunderten von Presse- und Agenturmeldungen, die jede Redaktion tagtäglich erreicht, plus denen, die selbst recherchiert werden, muss eine Auswahl getroffen werden. Schon dann fehlen zahlreiche Teile eines viel größeren Puzzles. Im nächsten Schritt nimmt der/die JournalistIn diese Infos und macht daraus einen eignen Artikel, einen Radiobeitrag etc. Dieser Vorgang kann nur subjektiv sein –100 JournalistInnen, die dieselben Infos verarbeiten, erstellen 100 unterschiedliche Beiträge. Neben den persönlichen Vorlieben und Abneigungen kommen Vorgaben des Mediums hinzu, die beachtet werden müssen (zum Beispiel Länge des Beitrags, über welche Themen wie berichtet wird oder überhaupt). Auch wenn die Presse gerne von sich behauptet, eine objektive Berichterstattung zu liefern, so ist dies aus den gegebenen Gründen gar nicht möglich. Objektivität und 100-prozentige Wahrheit in den Medien abzubilden ist gar nicht möglich.
Auch deshalb habe ich keine Lust, mich näher mit der Berichterstattung zu beschäftigen. Wenn wir uns von unserer Angst leiten lassen, machen wir uns unfrei und zu Opfern. Die Konzentration der Medien auf Negatives bewirkt, dass wir das Positive und das viel größere Puzzle namens Wahrheit nicht mehr wahrnehmen – etwa, dass die meisten Menschen, die uns alltäglich begegnen, harmlos, wenn nicht gar freundlich und gut sind.
Erschwerend kommt hinzu: Unsere Gesellschaft ist derart kopfgesteuert, dass wir unsere subjektiven Gedanken als objektive Wahrheit wahrnehmen. Und wenn wir dem Kopf zu viel Platz einräumen, schwächen wir die Verbindung zu unserer Intuition, die aber so wichtig wäre, um das gesamte Puzzle namens Wahrheit wahrzunehmen. Wenn wir uns dann auch noch von den Medien einreden lassen, dass die Welt ein feindlicher Ort ist und viele Menschen uns Böses wollen, sind wir vollends im Angst- und Mangeldenken angekommen und von den wichtigen Impulsen unserer Intuition abgeschnitten.
Genauso wie das Sichtfeld schränkt Angst also unsere restliche Wahrnehmung ein. Sie verführt uns dazu, nur einen bestimmten, klitzekleinen Ausschnitt aus der riesigen Wahrheit zu sehen. Diesen Ausschnitt halten wir für wahr, wenn wir diesen Gedanken glauben, die damit einhergehen.
Dazu ein Beispiel: Wenn die Angst meine Gedanken führen würde, könnte ich wegen #KoelnHBF zu Glaubenssätzen kommen wie: „Oh je, draußen laufen hunderte von Männern herum, die mir alle etwas antun wollen. Ich muss vorsichtig sein (und bei jedem Mann eine Armlänge Abstand halten). Besser ist es, im Dunkeln nicht mehr aus dem Haus zu gehen und allen Männern, die mir auf der Straße begegnen, auszuweichen.“ Doch ist das die Wahrheit? Ist das meine wahre Erfahrung? Nein! Wenn ich möglichst objektiv darüber nachdenke, ist es so: 99,98 Prozent der Männer, die mir täglich begegnen und in der Vergangenheit begegnet sind, sind mir gegenüber indifferent bis freundlich. Und das unabhängig von Tageszeit, kulturellem/religiösem Hintergrund, Herkunft etc. Muss ich nun die 0,02 Prozent fürchten? Och nö, dazu hab ich keinen Bock.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich sage nicht, dass wir – vor allem wir Frauen – nun nachts durch dunkle Parks gehen können. Dies wäre genauso unvernünftig. Vielmehr plädiere ich dafür, eine Balance zu finden und zu halten. Eine Balance für die Freiheit(en), die wir uns nehmen wollen – und auch dürfen. Eine Balance zwischen Verstand und Bauchgefühl. Eine Balance zwischen blinder Panikmache und dem Erkennen von möglichen Motiven dahinter und einer möglichen größeren Wahrheit. Außerdem fühle ich zutiefst mit jeder Frau, die sexuellen Missbrauch erleiden musste. Und mir ist vollkommen klar, dass es nach einer solchen Erfahrung nicht leicht ist, die Angst und die damit einhergehenden Gedanken abzustellen und angstfrei durchs Leben zu gehen. Mir ist sehr bewusst, dass ich gut reden habe.
Wir können uns entscheiden – individuell und kollektiv, jeden Tag aufs Neue: Für die Angst oder für Intuition und Vertrauen – in uns und in andere. Ich jedenfalls habe mich entschieden – dafür, mir nicht einreden zu lassen, dass ich ab sofort bei Einbruch der Dunkelheit nicht mehr rausgehen darf, weil ich sonst riskiere, von einem fiesen männlichen Mob überfallen zu werden. Aufs zu Hause bleiben habe ich nämlich gar keine Lust. Wozu haben zwei Frauenbewegungen so viele Freiheiten erkämpft, von denen wir heute profitieren – nicht zuletzt die Freiheit, dass wir auf die Straße gehen können, wann und wie wir wollen? Damit wir diese nun wieder aufgeben?? Das sehe ich gar nicht ein!!! **
Ich werde mir kein Pfefferspray kaufen – nicht nur, weil es in Köln sowieso ausverkauft ist … Sondern da auch dies nur Ausdruck von Angst ist, von der ich mich weder führen noch einschränken lassen will.
Wollen wir, dass Köln – wie ich finde, nach wie vor die tollste Stadt der Welt – jetzt nur noch für dieses EINE schlimme Ereignis steht? Oder wollen wir uns wieder beruhigen, tief durchatmen (eine tolle Technik, um sich mit sich selbst und der Intuition zu verbinden), von der Angst ins Vertrauen gehen und dann erkennen, dass die Welt kein feindlicher Ort ist und dass die Wahrheit viel größer ist als es uns unser angsterfüllter Verstand und die Medien weismachen wollen? Wir haben die Wahl. Wofür entscheidest Du dich?
Kannst Du Dir vorstellen, wie eine Gesellschaft aussähe, die sich nicht von Angst, Mangel und einer falschen Sicherheit leiten lässt? Dazu evtl. später mehr an dieser Stelle.
Zum Thema empfehle ich die kostenlose Webinarreihe The Big Shift von Trainer Martin Weiss, die am Sonntag, 6. März, beginnt.
* „Wahrheit“ ist natürlich ein riesiger Begriff, über den sich lange philosophieren ließe. Niemals würde ich behaupten, die Wahrheit für mich gepachtet zu haben. Diesen Begriff gebrauche ich hier nur, um darzustellen, dass unsere Wahrnehmung und unser Verstand immer subjektiv ist und dass es unendlich viele weitere Möglichkeiten gibt, wie etwas sein könnte (oder auch nicht).Wer sich näher damit beschäftigen möchte, kann sich dazu zum Beispiel mit dem Thema Glaubenssätze und/oder mit The Work von Byron Katie auseinandersetzen.
** Die übermäßige Verwendung von Satzzeichen ist eigentlich nicht mein Stil. Hier muss es aber m. E. sein, denn ich kann dies nicht klar genug betonen.
Meine persönlichen Empfehlungen für Bücher und Filme zum Thema Angst:
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Update September 2017, kurz vor der Bundestagswahl: Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür, wie die Medien (und so genannte Experten) die Angst der Menschen gleichzeitig schüren und sie für sich zunutze machen, deckt Übermedien in der ZDF-Sendung Peter Hahne auf. Schaut selbst: